Sascha Beier (46) ist seit 12 Jahren Gefängnispsychologe, hat zuvor Erfahrungen in einer Suchtklinik gesammelt, geht manchmal Bogenschießen und raucht wie ein Schlot. Knast, sagt er, kann funktionieren. Wenn Zeit bleibt, sich mit dem Gefangenen zu beschäftigen.
Wie findest du die Idee, so ein Buch gonzomäßig aufzuziehen?
Das ist schön perplex. Du kommst als Kosmonaut, landest auf dieser Welt mit dem Auftrag, von der Spezies zu berichten, die haben da so ein System: „Gefängnis“ – du bist völlig raus – Was macht das auf dich für einen Eindruck? Das ist geil!
Butter bei die Fische: Was führt die Spezies an diesen Ort?
Immer geht es um eine konkrete Verhaltensweise, die ich gezeigt habe, die verboten ist. Bei der es nicht unverhältnismäßig erscheint, dass diese Handlung verboten ist. Um die Gesellschaft, die uns Regeln auferlegt, dass das Miteinander funktioniert. Meine Freiheit zu achten, die Freiheit des anderen, ohne dem anderen etwas wegzunehmen. Dass das grundsätzlich geschützt ist, muss man nicht schlecht finden.
Einer der Protagonisten in „TextTäter. Therapie oder Tod“, Christian Schuchardt, sagt, der Verdrängungskünstler in ihm hat es geschafft, sich nicht mit sich selbst zu beschäftigen… Hat jeder diese Fähigkeit zur Reflexion?
Es ist die Idee vom optimalen Aufwachsen als Kind, die man braucht, um Fähigkeiten zu erlernen – Ohne dass du die Gelegenheit hast, innerhalb einer gewissen Umwelt, diese Fähigkeiten erlernen zu können, beigebracht zu bekommen, erlernst du sie nicht. Entwicklungspsychologisch gesehen, gibt es Fenster. Bestimmte Fähigkeiten, viele fundamentale, lernt man nur innerhalb dieses Entwicklungszeitraums. Unser Gehirn bildet sich bis zum sechsten Lebensjahr aus, was die Anzahl der Nervenzellen und der Verbindungen anbelangt. Nie wieder so intensiv wie in dieser Zeit. Was dabei als Grundstruktur angelegt wird, ist da und nicht reversibel. Man kann neue Dinge dazulernen. Aber wie du Situationen empfindest, welchen Handlungsimpuls du dabei hast, das, was du bist, wird in dieser Zeit geprägt.
Was bedeutet das für deine Arbeit mit den Gefangenen?
Im Einzelfall gilt es zu schauen, welche Spuren nicht richtig laufen. Und das ist das Gleiche wie bei den Psychologen draußen. Wobei man dort von sich aus in eine ambulante Praxis geht, weil man mit sich nicht zurechtkommt. Gefangene haben meist eher das Gefühl, andere kommen mit ihnen nicht zurecht, bringen also weniger häufig die Einstellung mit: mir müsste geholfen werden, weil mit mir was nicht stimmt.
Und das ist auch Ausdruck von: Inwieweit bin ich in der Lage, die Verantwortung für mich zu übernehmen und mich so zu managen, dass ich nicht in Konflikte komme? Denn letztlich handele ich immer wieder mit dem Ziel meiner Emotionsregulation. Crystal-Konsum ist nichts anderes als Emotionsregulation. Es geht darum, Balance zu halten. Und diese Balancefähigkeit, mit Konflikten, die ich habe, umzugehen, ist wieder an Fähigkeiten geknüpft – zum Beispiel Bedürfnisse aufschieben zu können. Es ist psychologisch unstrittig, in welcher Zeit man das lernt: Bedürfnisse aufschieben zu können.
Kann man das nicht grundsätzlich?
Beispiel Reinlichkeitserziehung. Das Kind erlebt den Stolz, die Freude der Eltern, wenn es zum ersten Mal in ein Töpfchen macht. Es wird belohnt. Gleichzeitig lernt es: Es kann die Eltern zappeln lassen: Wir nennen es Trotzphase. Es gibt eine überschaubare Zahl von zum Menschen gehörenden Grundbedürfnissen, nach Vertrauen, nach Vorhersehbarkeit, nach Anerkennung… Jugendliche suchen Anerkennung in der Gruppe. Wenn jemand ein cooles Auto oder ein Motorrad fährt, ist das aus psychologischer Sicht eine Pseudobefriedigung, um sich besser zu fühlen.
Das andere sind Fähigkeiten, die eigenen Bedürfnisse wahrnehmen zu können. Man könnte sagen, am Ende höre ich auf das, was aus mir herausspricht, was ich gerne möchte, was ich brauche: Kenne ich das, wie habe ich das erlernt…? Durch was habe ich diese Fähigkeiten bekommen?
Gibt es einen Unterschied zwischen männlicher und weiblicher Kriminalität?
An dem grundlegenden Prinzip ist nichts anders. Es sind die gleichen Grundbedürfnisse. Einerseits wollen wir uns als Individuum wahrnehmen, andererseits wollen wir uns zugehörig fühlen. Das nennt man Grundkonflikt. Weil sie sich per se widersprechen.
Das ist nicht lösbar...
Das muss man aushalten können. Ich muss wissen, wie ich selbst mit Konflikten, die daraus resultieren, umgehe.
Und wie lernt man das?
Das Baby unterscheidet nur zwischen angenehmen und unangenehmen Zustand. Es differenziert nicht nach Freude, Ekel, Leidenschaft. Das ist nicht angelegt.
Wie kommt die Differenzierung zustande?
Beispiel Schreck: Der erzeugt eine physiologische Reaktion, die Alarmbereitschaft. Das ist nicht angenehm, wenn man erschrickt, doch es ist ein neuronales Muster. Die Reaktion der Nerven und die körperliche Reaktion geschehen gleichzeitig. Und diese Gleichzeitigkeit lässt Nerven zusammenwachsen. In tausend Situationen erschreckt das Kind und die Mutter tröstet es. Durch die Wiederholung entsteht ein neuronales Erregungsmuster: Ich lerne, es gibt den Schrecken, doch es passiert mir nichts, ich bin gehalten, geborgen. Die Idee der Mutter, die mich hält und trägt, wächst ein. Und auf dieses Gefühl greifen wir zurück. Ein Gefühl von Grundvertrauen. „Gut, dass ich da bin.“
Was ist mit den Männern, die dieses Grundvertrauen nicht haben?
Es ist gestört. Denn sie hatten diese Erfahrung nicht. Und das ist nicht nachholbar. Das neuronale Netz kann man vergleichen mit Wegen, die nach Häufigkeit ihrer Benutzung mal breiter oder mal nicht so breit sind. Das bildet unsere psychische Struktur. Man kann betrachten, auf welchem Niveau diese Struktur ist. Und wenn so eine ganz basale Autobahn nicht da, es nur ein Trampelpfad durch den Wald ist… tja.
Sind dann positive Entwicklungen überhaupt möglich?
Umso mehr die Struktur beeinträchtigt ist, desto schlechter ist die Behandlungsprognose. Weil man anerkennen muss, dass es in der Tiefe irreversibel ist – auf Grund der Entwicklungsfenster. Das soll nicht zur behandlerischen Hoffnungslosigkeit verleiten. Es gilt aber: Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.
Da wären wir bei den Gefängniskritikern, die sagen: Wir dürfen uns nicht in die Tasche lügen, es gibt Täter, die nicht therapierbar sind, denen denselben Aufwand zukommen zu lassen, ist wahnsinnig. Stichwort Strafempfänglichkeit…
Es gibt einen aversiven Reiz, der auf dieses Kindschema angewendet werden kann. Angenehm/ Unangenehm. Was ich als unangenehm erlebe, als aversiv, das liegt in mir. Manche finden Schmerz geil. In aller Regel fühlt sich jeder, der eine geklatscht bekommt, unangenehm. Es liegt aber im Empfänger, wie der es einordnet. Der gesunde Mensch sieht, dass er Scheiße gebaut hat; für ihn ist ein Teil der Heilung das Gefühl der Reue: Nachdem der andere seinen Ärger darüber zum Ausdruck gebracht hat, ist die Balance wieder hergestellt.
(...)
Bereitest du sie vor, was gibt man ihnen für Bausteine vor?
In den Diagnoseverfahren muss man herausfinden, warum ist derjenige straffällig geworden, welche Bedürfnisse standen dahinter und wie kann er die, die bleiben werden, auf eine andere Art und Weise erfüllen, in Anerkennung seiner Ressourcen. Die Menschen sollen dazu befähigt werden, das ist die Leitidee. Das setzt voraus, dass ermittelt wird: Warum zum Beispiel fährt der immer wieder schwarz, nimmt dafür in Kauf, ins Gefängnis zu wandern…? Warum kriegt er das nicht anders geregelt? Er hat ja nichts davon, nicht langfristig.
Nehmen wir den Schwarzfahrer aus „Therapie oder Tod“. Der Junge kam nicht in die Berufsschule, sein Vater hat ihm das Geld weggenommen, ein Spieler, Alkoholiker. Und der Junge fand seine Ausbildung gut.
Da hat er sich in der Abhängigkeit zu seinem Vater nicht anders zu helfen gewusst, es am Ende gedeckelt, ihn geschützt. Er konnte sich gegen den Grenzübertritt des Vaters (er nimmt ihm das Geld weg) nicht wehren, konnte dem nicht standhalten. Eigentlich hätte er ihn anzeigen müssen. Legal wäre zu fordern gewesen, dass er sich Hilfe holt, dafür, dass er das nicht machen muss. Es ist ja nicht kriminell, nach der klassischen Definition. Klar, es ist illegales Verhalten. Dennoch…!
So ist das tatsächlich oft. Anzuerkennen – Was wäre denn nötig? – Wenn man nicht gelernt hat, dass es Hilfe gibt: Schwierig! Das ist bei uns nicht anders und bei den Jugendlichen noch schwieriger, da sie nicht verstehen, was Obrigkeit ist, welche Aufgabe Polizisten haben, Gerichte und so weiter.
Lernt der Kleine vom Großen, kriminalisiert der Knast?
Das ist ein Klischee.
Vor allem im Jugendknast.
Wo sie sich beweisen müssen, ja. Hörner abstoßen, wer ist der Größte, wer kann am weitesten übern Zaun pissen!? Wie junge Hunde, die im Rudel nicht wissen, wohin mit der Kraft. Jeder, der dort reinkommt, ist gezwungen, sich mehr oder weniger in dieser Dynamik zurechtzufinden. Das prägt und bringt manche Leute rein, um nicht unterzugehen. Aber pauschal zu sagen, es kriminalisiert mehr … Man kann es schwer widerlegen.
(...)
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